[Theaterkritik zur Ibsens „Wildente“ am Hessischen Staatstheater]
Das Hessische Staatstheater inszeniert derzeit mit der „Wildente“ von Henrik Ibsen einen Meister der abgrundtiefen Theaterpsychologie
Der Norweger Henrik Ibsen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Lebenslügen seiner Zeit aufzudecken. Im Kampf der Geschlechter stellte er sich gerne auf die Seite der Frauen. In der „Wildente“ von 1884 beweist er, wie in vielen seiner Stücke, großes psychologisches Gespür und überlässt den weiblichen Rollen den gewinnenden Part.
Gregers Werle trifft bei einem Empfang im vornehmen Elternhaus auf seinen Jugendfreund Hjalmar Ekdal. Der gänzlich antriebslose Hjalmar ist mittlerweile verheiratet, Vater einer Tochter und Inhaber eines Fotoateliers. Er arbeitet vermeintlich an einer Erfindung, die die Fotografiewelt revolutionieren soll. Im Gespräch mit Hjalmar scheint deutlich zu werden, dass dieser sich von Gregers Vater in ein Netz aus Lügen hat einspinnen lassen. Gregers will seinem Freund die Augen öffnen. Er erkennt nicht, dass Hjalmar seinen hohen Idealen nicht gewachsen ist. Durch seinen Aufklärungszwang stürzt das Kartenhaus, in dem Hjalmar und seine Frau Gina es sich mit ihrer Tochter Hedvig gemütlich gemacht haben, ein. Nur Dr. Relling, ein Feund der Familie, erkennt schon früh die Konsequenzen von Gregers idealistischem Perfektionismus: „Wenn Sie einem Menschen die Lebenslüge nehmen, so bringen Sie ihn gleichzeitig um sein Glück.“
Typisch für Ibsen sind auch in diesem Drama die psychologischen Instrumente, die er geschickt einsetzt. Er nutzt die Eigenart des menschlichen Gehirns, einen zuerst erzählten Tatbestand für wahr zu halten, ungeachtet dessen, was später thematisiert wird. Dieser Erzähltrick führt dazu, dass der Zuschauer glaubt, mehr zu verstehen, als auf der Bühne direkt dargestellt wird. So führt der Theaterbesucher Hedvigs schwindendes Augenlicht darauf zurück, dass sie nicht Hjalmars Tochter ist. Stattdessen nimmt er an, sie sei das Ergebnis einer Affäre von Gina mit dem alten Werle, der ebenfalls erblindet. Dabei erwähnt Ekdal später, dass auch seine Mutter nur über ein geringes Sehvermögen verfügte.
Manfred Beilharz inszeniert die beiden männlichen Protagonisten als konsequente Versager. Den einen, Gregers (Michael Günther Bard), weil dieser dem Idealismus so verfallen ist, dass er die Realität selbst am Ende nicht erkennen kann. Bis zuletzt sieht er nicht ein, dass er durch seine Mühen, das Lügennetz zu entwirren, die Familiensituation nur verschlimmert hat. Den anderen, Hjalmar (Michael Birnbaum), weil dieser als selbstgerechter Schwächling nicht einmal in der Lage ist, sein einfaches Leben zu bestimmen. Auch nach den Enthüllungen seines Freundes bringt er nicht die Kraft auf, einen Schlussstrich zu ziehen oder einen Neuanfang zu wagen.
Eine phantasiereiche Parallele ergibt sich zwischen Hjalmars Lügengebäude und dem Titel des Stücks. Die Familie hält eine verwundete Wildente auf dem Dachboden, die von keinem anderen als dem alten Werle, dem möglichen leiblichen Vater von Hedvig, angeschossen wurde. Hjalmars Vater erklärt hierzu im ersten Akt: Wird eine Wildente angeschossen, taucht sie auf den Grund des Teiches und verbeißt sich im Tang bis sie verendet. Auch Hjalmar nimmt sein Leben selbst nach Gregers Offenbarungen nicht selbst in die Hand. Er versinkt stattdessen immer tiefer in Selbstmitleid und wird so selbst zur Wildente.
Gewinnerin des Stücks ist Hjalmars Frau Gina (Sybille Weiser), die durch ihren Pragmatismus und ihre direkte Art überzeugt. Auch Hedvig, die Gregers‘ Idealismus zum Opfer fällt und dem letzten Akt zu einem tragischen Höhepunkt verhilft, wird von Magdalena Höfner glaubhaft dargestellt.
So überzeugen in diesem Drama nicht die unsympathischen Protagonisten des Stücks, wohl aber die Darsteller auf der Bühne. Sie setzen dieses Versagertum gekonnt um und halten es abgesehen von kleineren Patzern bis zum Schluss durch. Die Wirkung von Ibsens Psychospielchen im Stück wird durch ein schlichtes Bühnenbild und eine meisterhafte Lichttechnik unterstrichen.
Die verhaltene Reaktion des Publikums am Ende des Stücks ist angesichts der phasenweisen Langatmigkeit des Schauspiels dennoch nachvollziehbar.